Giorgio Colli (1917-1979)
Letzte Aktualisierung: 4. Oktober 2014
Giorgio Colli wurde am 16. Januar 1917 in Turin geboren – "im Jahr der Russischen Revolution", wie er später selbst sagen würde. Seine Mutter, Enrica Colombetti (1888-1955), Tochter des Besitzers eines Turiner Grand Hotels, hatte in ihrer Jugend noch selbst im Hotel gelebt. Giorgio ähnelte der Mutter in den Gesichtszügen und der Haarfarbe, in seinem Bedürfnis nach comfort, hauptsächlich jedoch in seiner Sensibilität und Zurückhaltung.
Der Vater Giuseppe Colli (1888-1973) dagegen war ein überschwänglicher Charakter. Bereits als junger Mann bei der von Alfredo Frassati geführten Tageszeitung "La Stampa" angestellt, wurde er in kurzer Zeit mehrfach befördert und konnte bald den Posten des Geschäftsführers einnehmen. Im Jahr 1930 weigerte er sich aufgrund seiner Ablehnung des Faschismus und seiner Treue gegenüber Frassati in die Partei einzutreten und wurde deshalb auf ausdrückliche Veranlassung Mussolinis seines Amtes enthoben. Frassati sah sich gezwungen die Zeitung abzugeben – sie war eine der letzten vom Regime unabhängigen Pressestimmen. Vom Vater hatte Giorgio die Körpergestalt, die charakterliche Standhaftigkeit, und eine absolute moralische Strenge, dazu einen instinktiven Antifaschismus übernommen.
In seinen Jugendjahren verbringt Giorgio die Sommerferien in Rivara Canavese, in dem Haus, das sein Vater von den namhaften Architekten Giuseppe Pagano und Gino Levi Montalcini hatte erbauen lassen. Es sind Zeiten intensiven Studiums, in denen er seine ersten Arbeiten verfasst.
Von 1930 bis 1935 besuchte Colli das humanistische Gymnasium "Massimo d’Azeglio" in Turin. Unter seinen Lehrern war Leone Ginzburg und auch Cesare Pavese lehrte an dieser Schule. So schreibt die Ehefrau Annamaria: "Als er achtzehn Jahre alt war, erkrankte er, noch in Gymnasium, an einer nicht schweren, aber langwierigen Krankheit. Während der langen, einsamen Rekonvaleszenz spürte er das erste Mal in seinem Leben mit hoher Intensität in sich selbst etwas vollkommen Neues, und erkannte die Dinge nach ihrem eigenen Wesen." Noch vor Ende seiner Schulzeit hatte Colli alle Dialoge Platons im Original gelesen.
Obwohl Colli bereits der Philosophie zugewandt war, immatrikulierte er sich 1935 an der Fakultät für Jurisprudenz in Turin, wo er auf Gioele Solari traf, der Professor für Rechtsphilosophie war. Außerhalb der Universität war er in jenen Jahren ein eifriger Schüler Piero Martinettis, den er auf seinem Landhaus aufsuchte: dies bedeutete für ihn eine Vertiefung in Schopenhauers Denken. Martinetti war einer der nur zwölf ordentlichen Professoren in ganz Italien, die sich weigerten in die faschistische Partei einzutreten und damit ihre Lehrbefugnis verloren.
Im Juli 1939 schloss Colli sein Studium bei Solari im Fach Rechtsphilosophie mit einer Arbeit ab, die den Titel Politicità ellenica e Platone trug (dt.: Das Politische bei den Griechen und Platon) und noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift "Nuova rivista storica" veröffentlicht wurde.
Nach seiner Studienzeit war Colli zwei Jahre lang Assistent Solaris. Aus dieser Zeit stammen einige zunächst unveröffentlichte philoso-phische und philologische Arbeiten – über die Griechen, doch auch nach eigenen Ansätzen –, die erst kürzlich posthum beim Adelphi-Verlag in Mailand erschienen sind. 1942 bestritt er mit Erfolg den staatlichen “concorso” für das Lehramt der Philosophie an Gymnasien und heiratete Annamaria Musso. Von 1942 bis 1948 unterrichtete er Philosophie am "Liceo Machiavelli" in Lucca, mit Ausnahme des Zeitraums von 1944-1945, in welchem er nach Lugano in die Schweiz emigrierte, um der faschistischen Republik von Salò zu entgehen. Dort unterrichtete er die jungen Flüchtlinge in Latein und Griechisch und lernte Alessandro Fersen, später ein berühmter Schriftsteller und Theaterregisseur, und Eugenio Cassin kennen.
Die in Lucca verbrachten Jahre waren von entscheidender Bedeutung, denn damals schuf sich Colli jenen Kreis von Feunden – darunter Mazzino Montinari und Angelo Pasquinelli – mit denen er später sein Leben, seine Projekte und seine Arbeit teilen sollte; und er schrieb sein erstes Buch, Physis kryptesthai philei. Studi sulla filosofia greca (Die Natur liebt es sich zu verbergen. Studien zur griechischen Philosophie), das 1948 in Mailand erschien, und mit dem er die Habilitation erlangte. Das Buch wurde 1988 mit dem Titel La natura ama nascondersi (dt.: Die Natur liebt es sich zu verbergen) bei Adelphi neu aufgelegt. Noch im selben Jahr 1948 erhielt er einen Lehrauftrag für "Geschichte der antiken Philosophie" an der Universität Pisa, den er bis zu seinem Tode behielt.
Doch war es nicht die akademische Welt, die ihn anzog, sondern vielmehr die Welt der Verlage.
In den späten Vierziger und in den Fünfziger Jahren veröffentlichte Colli bei Einaudi in Turin drei Übersetzungen: Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht von Kurt Hildebrandt (1947), Von Hegel zu Nietzsche von Karl Löwith (1949), und Geschichte der modernen Philosophie von Ernst Cassirer (1953). Inzwischen hatte er, bereits seit 1945, Cesare Pavese die Übersetzung sämtlicher Werke sowohl Nietzsches als auch Schopenhauers vorgeschlagen. Beides wurde von Einaudi abgelehnt, doch für Schopenhauers Parerga und Paralipomena gelang es Colli 1950 einen Vertrag mit Laterza in Bari abzuschließen. Er machte sich ans Werk und brachte die Übersetzung zu Ende. Aber aufgrund eines Vetos von Benedetto Croce wurde daraus nichts.
Colli leitete dann, weiterhin für Einaudi, die Reihe "Classici della filosofia", innerhalb der er – neben anderen Werken – zwei eigene eindrucksvolle Arbeiten veröffentlichte: eine ausführlich kommentierte Übersetzung des Organon des Aristoteles (1955) und eine Übersetzung von Kants Kritik der reinen Vernunft (1957), ferner eine Edition der Vorsokratiker (1958) seines Schülers Angelo Pasquinelli, der noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr in Zürich verstarb. Bei Einaudi begann seine Zusammenarbeit mit Luciano Foà, dem zukünftigen Begründer des Adelphi-Verlages, der bei Einaudi sein Referent im Lektorat wurde. 1958 gelang es ihm schließlich mit Giulio Einaudi über die Übersetzung sämtlicher Werke Nietzsches einig zu werden – der betreffende Vertrag wurde 1959 unterzeichnet.
Den Sommerurlaub der Jahre 1958 und 1960 verbrachte Colli in Sils-Maria, umgeben von nietzscheanischem Ambiente.
Von 1958 bis 1965 gab Colli für den Verleger Paolo Boringhieri in Turin die "Enciclopedia di autori classici" heraus: In dieser Reihe erschienen innerhalb von sieben Jahren mehr als 90 Werke, die nicht etwa aus anderen Katalogen übernommen, sondern vielmehr ausdrücklich für dieses Projekt ausgesucht, übersetzt und herausgegeben wurden – gemeinsam mit einem engen Kreis von Mitarbeitern, unter denen Mazzino Montinari herausragte, mit dem er seit der Zeit in Lucca nach langen Jahren getrennter Wege erneut zusammengetroffen war. Die Reihe begann mit Nietzsche (Schopenhauer als Erzieher, übersetzt von Montinari), um dann über Goethe und Schopenhauer zu den von Nietzsche gelesenen Autoren überzugehen: Hölderlin, Taine, Chamfort, Vauvenargues, Hume, Voltaire, die Upanishaden und, selbstverständlich, Stendhal und Burckhardt – bis zu den Klassikern des naturwissenschaftlichen Denkens – Fermat, Pascal, Newton, Ein-stein –, zu den Griechen und den Klassikern des orientali-schen Denkens. Colli übersetzte eigens Platons Gastmal und veröf-fentlichte seine bereits vorliegende Übersetzung der Parerga und Paralipomena Schopenhauers.
1961 trat Giulio Einaudi unerklärlicher Weise von dem Vertrag über die Herausgabe der Werke Nietzsches zurück. Daraufhin brach Colli seine Zusammenarbeit mit Einaudi ab. Und Luciano Foà verließ den Einaudi-Verlag um in Mailand einen neuen zu gründen – so entstand 1962 der Verlag Adelphi.
Luciano Foà übernahm das Projekt der Realisierung der kritischen Nietzsche-Ausgabe: auf sich allein gestellt war Adelphi jedoch nicht stark genug. Sichergestellt wurde das Vorhaben im Sommer 1962 durch die Zusammenarbeit mit Gallimard in Paris: In Frankreich war das Interesse für Nietzsche bereits damals beachtlich, während man in Deutschland zu einer Beteiligung noch nicht bereit war. Erst im Juni 1966 konnte der Vertrag mit dem Verlag W. de Gruyter in Berlin unterschrieben werden.
In den Jahren von 1962 bis 1968 wurde der Großteil der Arbeit für die Nietzsche-Ausgabe getan: Montinari verlegte seinen Wohnsitz nach Weimar, wo im Goethe-Schiller-Archiv Nietzsches Manuskripte aufbewahrt sind; Colli trat häufige Reisen dorthin an.
1969 nahm Colli die Veröffentlichung eigener Werke wieder auf, nämlich mit einem äußerst anspruchsvollen theoretischen Versuch: Filosofia dell’espressione (dt.: Philosophie des Ausdrucks, nicht übersetzt), veröffentlicht bei Adelphi in Mailand, wo von nun an alle seine Bücher verlegt wurden. “La più grande emozione – die größte Erregung” – notierte er bei Erscheinen des Buches in seinem Tagebuch.
1971-72 arbeitete er intensiv an einem ehrgeizigen verlegerischen Projekt, einer "Enciclopedia dell’antichità classica" in 25 Bänden, einem Nachschlagewerk, das – nach den Absichten Collis – der Pauly-Wissowa-Enzyklopädie entgegenzusetzen wäre. Es gelang ihm jedoch nicht einen Verleger zu finden, trotz der Unterstützung, und in vielen Fällen der zugesicherten Mitarbeit, bedeutender Gelehrter des Klassischen Altertums vom Format eines H. Cherniss, W. D. Ross oder G. Pugliese Carratelli.
1974 veröffentlichte Colli sein Dopo Nietzsche (dt.: Nach Nietzsche, Frankfurt a. M. 1980), und 1975 La nascita della filosofia (dt.: Die Geburt der Philosophie, Frankfurt/ M. 1981).
1976 ging Colli auf den Vorschlag von Luciano Foà ein und begann an einem großen wissenschaftlichen Unternehmen zu arbeiten: Es handelt sich um La sapienza greca, eine neue kritische Ausgabe der Vorsokratiker, auf elf Bände veranschlagt, mit der Bestrebung diejenige von Diels-Kranz abzulösen – schon 1977 erschien der erste Band, 1978 der zweite. Am 6. Januar 1979 starb Colli plötzlich in seinem Haus in Fiesole bei Florenz, kurz vor Abschluss des dritten, Heraklit gewidmeten Bandes: Er sollte 1980 (herausgegeben von Dario del Corno) posthum erscheinen.
Posthum sind außerdem, ebenfalls bei Adelphi, erschienen: Scritti su Nietzsche (1980; dt.: Distanz und Pathos, Einleitungen zu Nietzsches Werken, EVA, Frankfurt/ M. 1982), eine Sammlung der Einleitungen zu den Werken Nietzsches, die Colli für die italienische Gesamtausgabe geschrieben hatte und die auch in die deutsche Kritische Studien-Ausgabe (KSA, dtv / de Gruyter; 1980) aufgenommen wurden; La ragione errabonda. Quaderni postumi (1982; dt.: Die Vernunft auf Irrwegen. Nachgelassene Hefte, nicht übersetzt), eine vollständige Sammlung der Schriften und Aufzeichnungen der Jahre aus dem Zeitraum von 1948 bis 1977; Per una enciclopedia di autori classici (1983; dt.: Für eine Enzyklopädie klassischer Autoren, nicht übersetzt), eine Sammlung aller Vorworte zu der bei Boringhieri erschienenen Reihe ”Enciclopedia di autori classici”, die aus Collis Feder stammen.
Ferner erschienen – auch dank der Aufmerksamkeit, die Roberto Calasso dem Werk Collis entgegengebracht hat – Zenone di Elea (1998) und Gorgia e Parmenide (2003), die von Colli durchgesehenen und ergänzten Mitschriften zu seinen Vorlesungen in den Jahren 1964-1966 an der Universität Pisa. Darüber hinaus ist im Verlag ETS, anlässlich einer Colli gewidmeten, in Pisa abgehaltenen Tagung, eine nicht im Handel befindliche Ausgabe einer Jugendschrift Collis erschienen: Ellenismo e oltre. Einleitung (2004; dt.: Griechentum und darüber hinaus. Einleitung, nicht übersetzt). Darauf folgte, hauptsächlich aus dem Nachlass, die Veröffentlichung der Jugendschriften: Platone politico (2007), Filosofi sovrumani (2009) und Apollineo e dionisiaco (2010). Seit Mitte der Siebziger Jahre gibt es Übersetzungen von Collis Werken in französischer, spanischer, deutscher, portugiesischer und polnischer Sprache.
Sämtliches Material, das sich auf Collis Werk und Leben bezieht, wird derzeit durch das “Archivio Giorgio Colli”, Firenze, www.giorgiocolli.it, aufbewahrt und zugänglich gemacht